17
Dez
2005

Über unsere Verantwortung für die Erde

Gaia (von Jostein Gaarder)

Meine Eltern waren am 29. Februar zu einem Fest eingeladen, das fast die ganze Nacht dauern sollte. Ich hatte gesagt, dass ich keinen Babysitter brauchte. Ich hatte alle Lampen in der Wohnung eingeschaltet und die Telefonnummer hing an der Pinnwand. Aber trotzdem hatte ich Angst.

Zuerst setzte ich mich mit zwei Flaschen Limo, ein paar Berlinern und Kartoffelchips vor den Fernseher. Ich sah Berichte aus dem ganzen Land, danach wurde ein Fernsehkrimi angekündigt. Den wollte ich aber nicht sehen, weil ich ja allein war. Auf die anderen Kanäle hatte ich auch keine Lust, ich wusste einfach nicht mehr, was ich machen sollte. Ich holte mir das Weltraumlego und machte mich an die große Raumstation. Aber auch das fand ich ein bisschen unheimlich, jetzt, wo der Mond durch alle Fenster in die Wohnung schien. Es war Schalttag und es war Vollmond. Vollmond gibt es jeden Monat einmal, einen Schalttag haben wir nur alle vier Jahre. Ich versuchte auszurechnen, wie oft beides gleichzeitig passiert, aber diese Rechenaufgabe war so schwer, dass ich lieber auf mein Zimmer ging und mich ins Bett legte. Ich war schon fast eingeschlafen, aber dann glaubte ich, irgendwo ein Weinen zu hören. Ich ging wieder ins Wohnzimmer. Dort war der weiße Teppich in Mondlicht getaucht.

Ich setzte meine Brille auf, holte die Fernbedienung aus dem Bücherregal und schaltete den Fernseher ein. Weil ich den Krimi nicht sehen wollte, wechselte ich auf Videotext. Ich klickte mich durch ein paar Seiten. Plötzlich sah ich auf dem Bildschirm meinen eigenen Namen. »CLEMENS!«, stand dort. »DU MUSST AUF KANAL 8 UMSCHALTEN! DA BIN ICH!« Ich kapierte überhaupt nichts mehr, aber ich wechselte brav auf Kanal 8. Dort sah ich ein Mädchen in meinem Alter. Sie sah aus, als ob sie gerade geweint hätte.

"Hallo" sagte sie. "Du bist doch Anders, oder?"
Ich hielt es für ein ganz normales Fernsehprogramm, auch wenn sonst nie etwas passierte, sooft ich Kanal 8 einschaltete. Deshalb gab ich keine Antwort.
"Du musst mit mir sprechen, Anders", sagte sie jetzt.
Na gut", sagte ich ziemlich leise.
Jetzt sah ich das ganze Mädchen. Sie stand vor einer riesigen Müllhalde. Sie war bestimmt arm, denn ihre Kleidung war arg zerlumpt. Ich sah, dass sie Tränen in den Augen hatte. Trotzdem lächelte sie listig.
Tränen und Lächeln auf einmal. Das war ungefähr so wie Sonnenschein, wenn es regnet.
"Wie heißt du?, fragte ich.
"Ich heiße Gaia."

Sie hatte zwei tiefe Lachgrübchen in der Wange.
Gaia... Von meinem Vater wusste ich, dass die Erde auf Griechisch so hieß, aber ich hatte keine Ahnung gehabt, dass es auch ein Mädchenname war.
"Das ist ein griechischer Name, glaube ich", sagte ich. "Ich habe übrigens auch einen griechischen Namen. Anders kommt von Andreas, und das bedeutet einfach nur Mann."
Ich weiß nicht, warum ich das alles erzählte, ich war eigentlich nicht daran gewöhnt mit Mädchen zu sprechen. Und schon gar nicht mit solchen, die plötzlich bei fremden Leuten aus dem Bildschirm schauten.

"Wo wohnst du?", fragte ich.
"In der Milchstraße natürlich."
Jetzt lächelte sie wieder, aber dieses Lächeln war auch ein bisschen traurig.
"Ich auch, Anders Nitter, Kloverveien 3, Oslo, Norwegen, Europa, Erde, Milchstraße..."
"Du meine Güte, das ist doch eine viel zu lange Adresse. Weißt du nicht, dass alle Menschen in einem winzigen Häuschen an einer langen Straße namens Milchstraße wohnen?"
"Jetzt machst du Witze!"
"Nein. Das ist wirklich wahr!"

Sie schaute aus schwarzen, ernsthaft leuchtenden Augen zu mir hoch. Es war seltsam, dass ein Mädchen mit so weißer Haut so dunkle Augen haben konnte.
"Warum bist du so weiß?", fragte ich.
Sie fuhr zusammen. "Nach Wissenschaft darfst du mich nicht fragen, Anders."
"Warum ist deine Haut so weiß, meine ich."
"Weil ich krank bin. Wusstest du das nicht?"
"Was fehlt dir denn?"
"Es heißt... Umweltverschmutzung. Wusstest du das auch nicht?"
Sie warf den Kopf in den Nacken und zeigte auf die große Müllhalde im Hintergrund. Sicher hatte die sie so krank gemacht.
"Du hast mir immer noch nicht gesagt, wo du nun eigentlich wohnst."
"Kapierst du denn gar nichts? Du bist offenbar genauso blöd wie alle anderen...."
Sie setzte sich auf eine verdreckte Tonne und schlug die Hände vors Gesicht.
"Gaia!", sagte ich. Aber sie antwortete nicht. "Gaia!", rief ich laut, ich hatte Angst, sie könnte verschwinden.
Endlich schaute sie mich wieder an.
Sie war so schön, dass ich den Blick gar nicht von ihr abwenden konnte. Aber das machte ja nichts, sie konnte mich doch bestimmt nicht sehen.

Auf diese Weise war mir noch nie ein Mädchen aufgefallen. Bei Gaia war ich froh und traurig zugleich.
Dann fiel mir ein Film ein, den ich vor langer Zeit gesehen hatte. In diesem Film waren plötzlich Marsmenschen im Fernsehen aufgetaucht. Und Gaia hatte doch behauptet, in der Milchstraße zu wohnen...
"Bist du vom Mars oder so?", musste ich deshalb fragen.
"Unsinn!", sagte sie gereizt. "Du vielleicht, Anders?"
"Ich?"
"Naja, nicht gerade vom Mars. Du bist von der Erde, aber es ist eigentlich egal, wie wir den Planeten nennen, auf dem wir wohnen. Wichtig ist, dass wir ihn lieben."
Jetzt musste ich lachen. Aber irgendwie hatte sie auch Recht. Es war auch nicht merkwürdiger, ein "Marsmensch" zu sein, als ein "Erdmensch".
"Warum willst du mir nicht verraten, wo du wohnst?", fragte ich noch einmal.
"Weil ich überall wohne. Ich wohne zum Beispiel hier."
Sie zeigte auf die riesige Müllhalde.
"Hast du keine Eltern?"
Sie nickte geheimnisvoll.
"Und kümmern sie sich nicht um dich?"
Sie schüttelte den Kopf und schien losweinen zu wollen.
"Warum nicht?"
"Weißt du das nicht? Weil es zu viele sind."
"Mit Sicherheit nur zwei!"
Wieder schüttelte sie den Kopf.
"Alle Menschen auf der Erde sind meine Eltern. Aber wenn so viele auf mich aufpassen sollen, fühlt sich keiner richtig verantwortlich."
Sie starrte zu mir hoch.
"Vielleicht muss ich deshalb bald sterben!"
Ich verstand so gut wie nichts, ich wusste nur, dass dieses Mädchen mir Leid tat.
"Ich bin doch Gaia", sagte sie nun. "Verstehst du das nicht?"
Ich machte mich an meiner Brille zu schaffen, weil ich nicht wusste, was ich darauf antworten sollte.

"Die Brille steht dir wirklich gut", sagte sie und ich fuhr zusammen.
"Aber du kannst mich doch nicht sehen, du bist doch nur im Fernsehen."
"Ich kann dich sehen und hören, Anders."
"Kannst du aus dem Fernseher herauskommen?"
Sie strich sich die Haare aus der Stirn.
"Sicher, ich bin doch überall. Ich bin in den Blumen und Bäumen und Seen und Flüssen. Und da bin ich am schlimmsten krank."
"Und wenn du nicht im Fernsehen bist, bist du dann ein normales Mädchen?"
Jetzt lachte sie.
"Ich bin Mädchen und Junge, das kannst du dir doch denken. Ich bin auch erwachsen. Ihr alle zusammen seid doch ich."
"Das klingt seltsam."
"Es ist viel seltsamer, dass ihr das nicht versteht, und es ist außerdem schrecklich traurig. Wenn ihr bloß fassen könntet, dass ihr ein einziger lebender Organismus seid, dann würdet ihr nicht so viel Gift in der Natur lassen. Schließlich vergiftet sich doch niemand freiwillig selber."

Jetzt stand sie auf und lief vor der Müllhalde hin und her. Ich sah, dass ein leichter Wind wehte, denn ihre Haare bewegten sich. Sie schien zu frieren.
"Du bist so schön", sagte ich.
"Früher war ich viel schöner."
"Ach..."
"Schau mal!", sagte sie plötzlich und kletterte auf die Müllhalde. Als sie oben stand, zeigte sie auf eine große Stadt. "Siehst du den gelben Dunst da über der Stadt?"
Jetzt hatte sie mir den Rücken zugekehrt.
"Ja", sagte ich laut. "Natürlich sehe ich den."
"Das ist Gift", sagte Gaia. "Siehst du auch die Bäume da unten?"
"Sicher", antwortete ich fast wütend, denn die Bäume sahen nicht gerade gesund aus.
"Die sind schon fast tot. Die Luft hier ist so verschmutzt, dass sie nicht mehr atmen können..."
Sie drehte sich wieder zu mir um. Sie schien aus dem Fernseher heraus und zu mir ins Zimmer zu blicken.
"Siehst du, dass draußen Vollmond ist, Anders?"
Ich nickte. "Heute ist Schalttag und Vollond zugleich."
"Wenn du auf dem Mond stehen und mich als glitzernde Perle hoch oben am Himmel sehen könntest, dann würdest du verstehen, dass ich genauso lebendig bin wie du...."
"Ich verstehe es schon jetzt", sagte ich rasch. "Jetzt habe ich es verstanden."
"Wenn du ein gutes Fernglas hättest, dann würdest du auch sehen, dass ich krank bin."
"Kann man das wirklich sogar vom Mond aus sehen?"
Sie nickte.
"Vom Weltraum aus sehen die großen Städte aus wie böse Wunden... und von den Städten aus ziehen sich in alle Richtungen die großen Straßen hin. Und von dort aus gehen neue Straßen aus. Wie eine Krankheit, die sich über den ganzen Planeten ausbreitet."
"Du wirst bestimmt bald wieder gesund", sagte ich, denn jetzt tat sie mir entsetzlich Leid.
"Darüber hast du zu entscheiden", sagte sie. "Zusammen mit allen anderen."

Mehr sagte sie nicht, denn jetzt waren sie und die große Müllhalde plötzlich verschwunden. Stattdessen bedeckte jetzt ein Bild des Erdballs den ganzen Bildschirm. Unter dem Bild stand in großen Buchstaben "GAIA".
Ich weiß, dass ich dachte: Dieses Bild ist bestimmt vom Mond aus aufgenommen worden.

gaya

"Mother Nature at the Age of Three"
by Robin Waters 1993 (WeMoon 2004)
scherenschnitt

Der Hain der Baumkriegerin

Innere Welten, Irlands Weiten...

I lean my body into the bark of the Goddess Tree until my voice becomes one with Hers tumbling into roots and sky

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